Wie ist es gerade um Sie bestellt?
Schneller-höher-weiter scheint in unserer westlichen Welt nach wie vor handlungsleitend zu sein. Aktueller formuliert: sei erfolgreicher, schöner, glücklicher...
Wir vergleichen uns immer noch miteinander und in Arbeitswelt und Schulsystem gilt unverändert die Maxime „besser ist besser“. Und nun ist die Anforderung nicht nur gut zu sein, sondern sich dabei auch noch selbst zu verwirklichen. Der Slogan „Finde Deinen Traumjob“ macht die Berufswahl für Jugendliche eventuell auch nicht leichter und wer als Erwachsener die Work-Life-Balance nicht so gut hinbekommt, gerät schnell in die Kategorie „Fail“. In meinen Workshops höre ich in letzter Zeit öfter:
„Ein bisschen sehne ich mich schon nach der Ruhe der letzten beiden Jahre.“
Muss man uns wirklich erst ein- oder aussperren, damit es uns gelingt innezuhalten?
Möglicherweise nicht. Die Entscheidung liegt ganz bei uns. Das ist die gute und die schlechte Nachricht. Denn damit haben wir auch die Verantwortung für uns und dafür, dass wir Räume schaffen, in denen wir uns selbst in den Blick nehmen können. Jemand anderes wird das vermutlich nicht für uns tun.
Was ist Selbstwahrnehmung?
- Informationen, die wir von unseren Extero- und Propriorezeptoren erhalten, formen unser Selbstbild zusammen mit den Rückmeldungen, die wir von anderen bekommen. Wenn wir uns auf unsere Sinne konzentrieren: Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken, Muskeltonus, Atmung, Herzschlag, darauf achten, was wir gerade denken und uns in anderen spiegeln, bekommen wir einen recht guten Eindruck von unserem momentanen Ist-Zustand.
- Achtung, Verwechslungsgefahr: Selbstwahrnehmung ist NICHT die Analyse unseres Optimierungspotentials. Es geht nur darum zu spüren, was „jetzt ist“. Mit dem Ziel uns selbst nah zu sein, von uns und unserem Körper „zu wissen“.
Wie können wir Kinder motivieren auf sich zu achten?
Indem wir bei uns selbst anfangen. „Du solltest wirklich mal durchatmen mein Schatz und in Dich hineinspüren!“ keuchen wir abgehetzt zwischen Tür und Angel in Richtung unseres Nachwuchses. Vermutlich ein verhallender Appell.
Wenn Sie ein Elternteil sind, haben Sie auch die Vorbild-Rolle: Wann haben Ihre Kinder Sie das letzte Mal in Ruhe auf dem Sofa sitzen sehen ohne Medienkonsum oder Erledigen von Aufgaben?
Wenn Sie pädagogisch arbeiten: Wann haben Sie das letzte Mal auf Ihre Atmung geachtet?
Wir werden Kinder schwerlich über Vorträge und Aufforderungen dazu einladen können sich freundlich in den Blick zu nehmen, solange wir es nicht selbst tun.
Wie können wir uns selbst wahrnehmen (und Kinder dazu einladen?)
- Indem wir verlässliche (Zeit) Räume für unsere Selbstwahrnehmung und die der Kinder schaffen. Das können tatsächliche vereinbarte Zeiten sein (montags um 14:30 Uhr), das können Absprachen sein (vor jedem Termin, der herausfordernd sein könnte) oder Rituale (vor dem Einschlafen). Auch hier geht es nicht um Leistung. Dass Sie sich plötzlich täglich eine Stunde Zeit für die Selbstwahrnehmung nehmen, ist unwahrscheinlich. Besser, Sie spüren einmal im Monat in sich hinein, als nie.
- Wir können (im pädagogischen Kontext) Wahrnehmungs-Projekte durchführen oder „SinnesRäume“ anlegen: einen Duft-Garten, einen Barfußpfad, Fühl-Kisten, eine Ausstellung, eine ruhige Ecke (mit Kissen, Zelt)
- Wir können Fragen stellen rund um die Sinne und das innere Körpererleben.
Welches sind die ersten 5 Dinge, auf die Du schaust?
Was hörst Du alles?
Welche beiden Gerüche riechst Du gerade?
Welches Gefühl ist gerade besonders deutlich? Welches ist ganz „leise“?
Was kannst Du gerade schmecken?
Wo im Körper spürst Du Deine Atmung? o Für wen oder was schlägt Dein Herz heute?
Wo fühlst Du Dich besonders entspannt im Körper? Und wo ist die meiste Anspannung… - Diese Fragen dürfen kreativ erweitert werden. z.B.: Wenn Du Deine Kleidung zaubern könntest, was hättest Du gerade am liebsten an? Wenn in Deinem Bauch eine Melodie zu hören wäre, welche wäre das?
- Der kürzeste Body-Scan der Welt: Stelle Dir vor, Du lässt ein Licht (Lieblingsfarbe), wie bei einem Scanner, durch Deinen Körper laufen. Von oben nach unten. Was wird abgebildet? Lasse das Licht Dich noch zwei Mal von oben nach unten scannen. Wie verändert sich das, was beim ersten Mal abgebildet wurde?
- Wir können einander Rückmeldungen geben (Sie erinnern sich, dass die Selbstwahrnehmung beide Anteile hat, dass innere Erleben und das Spiegeln von außen): Holen Sie sich zuerst die Erlaubnis. „Darf ich Dir etwas sagen, das mir aufgefallen ist?“ Sollte dies Zustimmung finden, berichten Sie, und zwar (be)wertungsfrei. Erzählen Sie nur, was Sie gesehen und / oder gehört haben. Ohne Zuschreibung. Damit schaffen Sie den sicheren Rahmen, den es braucht, wenn wir uns aufeinander einlassen wollen. z.B.: „Ich habe gesehen, dass Du in dieser Woche öfter am Rand vom Hof gesessen und nicht mit den anderen gespielt hast. Es sah für mich so aus, als würdest Du im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf hängen lassen.“ (Hier können Sie auch eine Vermutung äußern:) „Kann es sein, dass Du im Moment traurig bist?“
Wozu ist Selbstwahrnehmung gut?
- Für die Selbstregulation: Wenn ich rechtzeitig bemerke, dass ich angespannt, nervös, erschöpft oder aufgedreht bin, kann ich dies in meinen Handlungen und Entscheidungen berücksichtigen und zum Beispiel rechtzeitig für Entschleunigung, Denk- und Atempausen sorgen.
- Für das Selbstbewusstsein: Wenn ich mich „selbst (für) wahr nehme“, bin ich mir meines selbst bewusst und kann „bewusst sein“.
Zusammengefasst: Unsere Kinder lernen von uns eher durchs Tun und Erleben als die Theorie. Wenn wir mit uns selbst freundlich sind (auch in unseren Erwartungen), sind wir es vermutlich auch zu anderen. Lassen Sie sich zur Selbstwahrnehmung einladen und laden Sie ein. Besser in kleinen Schritten als gar nicht. Spüren Sie nach außen, nach innen und seien Sie auch der Spiegel für andere.
Autor: Maria Wiprich
Thema: Selbstwahrnehmung bei Kindern fördern
Webseite: https://www.patchwork-coaching.de
#Erziehung, #Verhaltensmuster, #Gedanken, #Selbstbewusstsein, #Gefühle